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Aleister Crowley

STILLE

von Aleister Crowley

Von all den magischen und mystischen Kräften, von all den Gnaden der Seele, von all den Errungenschaften des Geistes, wurde nichts so mißverstanden, auch wenn mit allem gesegnet, wie die Stille.

Es wäre nicht möglich die gewöhnlichen Irrtümer aufzuzählen: nein, es mag gesagt werden, daß selbst daran denken in sich selbst ein Irrtum ist; denn seine Natur ist pures Sein, um es auch so auszudrücken, Nichts, so daß es sich hinter allem Intellektualismus oder Intuition befindet. So kann denn das äußerste dieses Essay bloß eine Art Wächteramt sein, als ob es ein Bereich der Loge sei, in dem das Geheimnis der Stille konsumiert werden kann.
Bezüglich dieser Haltung gibt es eine solide traditionelle Autorität; denn Harpokrates, Gott der Stille, wird Der Herr der Verteidigung und des Schutzes genannt.
Aber seine Natur ist in keiner Weise die passive und negative Stille welches das Wort gewöhnlich bedeutet; denn er ist der Ewig wandernde Geist; der reine und vollkommene fahrende Ritter, der alle Rätsel beantwortet und das geschlossene Portal der Tochter des Königs öffnet. Aber Stille im gewöhnlichen Sinne ist nicht die Antwort auf das Rätsel der Sphinx; es ist das, was durch die Antwort geschaffen wird. Denn Stille ist das Gleichgewicht der Perfektion; so daß Harpokrates die Urform ist, der universale Schlüssel zu jedem Mysterium. Die Sphinx ist das Rätsel, die feminine Idee zu der es bloß ein Gegenstück gibt, immer in der Form unterschiedlich und immer in der Essenz identisch. Dies ist die Bedeutung der Geste dieses Gottes; es wird viel klarer in seiner erwachsenen Form, als der Narr des Tarot gesehen und als Bacchus Diphues, und ohne Zweideutigkeit, wenn er als Baphomet erscheint.

Wenn wir noch weiter in seinen Symbolismus eindringen ist die erste Qualität, die unsere Aufmerksamkeit erregt, zweifellos seine Unschuld. Nicht ohne tiefe Weisheit wird er Zwilling von Horus genannt; und dies ist das Æon von Horus: er ist es, der Aiwass sandte um sein Kommen zu verkünden. Die vierte Kraft der Sphinx ist die Stille; für uns, die wir nach dieser Kraft als die Krone unseres Werkes streben, wird es von äußerstem Wert sein, seine Unschuld und seine Fülle zu erlangen. Wir müssen allerdings zu erst verstehen, daß die Wurzel moralischer Verantwortung, über die der Mensch blödsinnigerweise sich selbst lobt, da sie ihn von den Tieren unterscheidet, Beschränkung ist, welches das Wort der Sünde ist. Tatsächlich ist da Wahrheit in der hebräischen Fabel, daß das Wissen von Gut und Böse den Tod bringt. Unschuld wiederzugewinnen ist Eden wieder-zugewinnen. Wir müssen lernen ohne dieses mörderische Bewußtsein zu leben, daß jeder Atemzug, den wir machen, die Segel unseres gebrechlichen Bootes schwellen läßt, um uns näher zum Hafen unseres Grabes bringen. Wir müssen unsere Angst durch Liebe besiegen; erkennend, daß jede Handlung ein Orgasmus ist und deren totaler Erfolg nichts als Geburt ist. Und: Liebe ist das Gesetz: so muß jede Handlung Rechtschaffenheit sein und Wahrheit. Durch bestimmte Meditationen wird dies verstanden und festgestellt werden; und dies sollte so vollständig getan werden, daß wir uns unserer Heiligkeit nicht bewußt werden, denn nur dann wird Unschuld vollkommen. Dieser Zustand ist in der Tat eine notwendige Bedingung jener wirklichen Kontemplation, die wir für gewöhnlich als die erste Aufgabe des Aspiranten begreifen: die Lösung der Frage „Was ist mein wahrer Wille?“ Denn bis wir unschuldig werden können wir sicher sein, daß wir ständig mit einem Regelwerk von scheinbar Richtigem oder Falschem über unseren Willen richten; in anderen Worten, wir sind fähig unseren Willen von Außen zu kritisieren, wobei Wahrer Wille wie eine Fontäne von Licht von Innen hervorspringen sollte, und ungeprüft, kochend vor Liebe, in den Ozean des Lebens fließen sollte.

Dies ist die wahre Idee von Stille; es ist unser Wille, der hervorkommt, vollkom-men elastisch, sublim, um jeden Zwischenraum des Universums der Manifestation zu füllen, welches er auf seinem Wege trifft. Da ist kein Abgrund zu groß für seine unermeßliche Stärke, keine Enge zu schwierig für seine gelassene Subtilität. Er paßt sich mit perfekter Präzision jeder Notwendigkeit an; sein Fließen ist die Garantie seiner Treue. Seine Form wird stetig variiert durch jene besondere Unvollkommenheit mit der sie zusammentrifft: seine Essenz ist in allen Fällen identisch. Und immer ist der Effekt seiner Aktion Perfektion, das ist Stille; und diese Perfektion ist immer dieselbe, vollkommen zu sein, doch immer unterschiedlich, weil jeder Fall seine eigene besondere Quantität und Qualität darstellt.

Es ist unmöglich für die Inspiration etwa Dithyramben der Stille singen; denn jeder neue Aspekt von Harpokrates ist durch alle Ewigkeiten der Musik des Universums wert. Ich wurde einfach durch meine loyale Liebe zu dieser seltsamen Rasse geleitet, in der ich mich selbst inkarniert wiederfinde, um diese einfachen Verse des unendlichen Epos von Harpokrates zu verfassen, als wäre es eine Facette seiner fruchtbaren Brillianz die ein höchst erwünschtes Licht brach, um auf meinen dunklen Eingang zu scheinen, zu seinem Schrein der strahlenden, unaussprechlichen Gottheit.

Ich preise das üppige Entzücken der Unschuld, die virile und allgestaltende Ekstase der All-Erfüllung; ich preise das gekrönte und erobernde Kind dessen Name Kraft und Feuer ist, dessen Subtilität und Stärke Gelassenheit hervorbringt, dessen Energie und Ausdauer vollenden die Erlangung der Jungfrau des Absoluten; und, wenn manifestiert, der Spieler auf der siebenfältigen Flöte ist, der Große Gott Pan, und, sich in die Vollkommenheit willentlich zurückziehend, wiederum die Stille ist.


Aus ‚Little Essays Toward Truth‘, First edition published privately by O.T.O. London 1938 e.v.

Übersetzt von Fra*Sobek-Ra